Nicole Büsing (NB) und Heiko Klaas (HK): Timur D’Vatz,
Sie haben in Taschkent, Usbekistan, studiert und später Ihr Aufbaustudium in
London abgeschlossen. Können Sie uns
etwas über Ihre künstlerische Ausbildung an diesen so unterschiedlichen Orten
erzählen?
Timur
D’Vatz (TD): Das Studium an der Kunsthochschule in Taschkent bot mir die
perfekte Ausgangssituation, um meine künstlerische Ausbildung zu beginnen. Das
College selbst bestand aus einer Reihe wunderschöner, alter, einstöckiger Gebäude in einem ummauerten Garten. Die
Kunstausbildung fand aber auch außerhalb der Mauern der Kunsthochschule statt,
in den von Bäumen gesäumten Straßen von Taschkent, die voller bunter Früchte
und Menschen in farbenfrohen, traditionellen Kleidern waren. Dazu die Düfte von
Pilaw (einem orientalischen Reisgericht), serviert auf Tellern aus blauer Keramik.
Der Frühling war voller Blüten und Rosen, die in der ganzen Stadt wuchsen. In
den heißen Sommermonaten reiste ich in die Berge mit ihrem frischen, kühleren
Klima. Ich war mit meinem Malkasten unterwegs und fertigte Skizzen und kleine
Gemälde an. Der Herbst war dann von den reich mit Früchten behängten Bäumen
geprägt. Im Gegensatz dazu brachte der Winter reichlich Schnee. Usbekistan ist
eine Reise durch die vier Jahreszeiten.
Die
Royal Academy Art School in London bereicherte mich um eine weitere Erfahrung. Zunächst einmal war es dort
architektonisch ganz anders: klassisch und beeindruckend. Zudem gab es dort die
Möglichkeit, mit verschiedenen Medien und
Techniken zu experimentieren. Es gab dort ein gewisses Maß an Freiheit. Das
erforderte aber auch Selbstdisziplin, da sich jeder Schüler auf die Entwicklung
seiner eigenen Projekte konzentrieren musste. Ich hatte mein eigenes Studio mit
Zugang zum Zeichensaal, zur Druckwerkstatt und zur Bibliothek. Die Royal
Academy bot mir eine professionelle Plattform für den Einstieg in die
Kunstwelt, inklusive einer Einführung in ihre sozialen und kommerziellen
Aspekte.
NB
und HK: Mit welchen Themen und Medien haben Sie sich während des Kunststudiums
beschäftigt? Welchen Einfluss hatten Ihre Lehrer auf Ihre Arbeit und Ihr künstlerisches
Denken?
TD’V:
Hauptsächlich habe ich mich mit dem Thema der antiken Mythologie beschäftigt.
Eine Reise nach Wales, bereichert durch meine Kenntnis Arthurianischer Legenden
und deren tiefer Verwurzelung in den keltischen Mythen, gab mir viel
Inspiration. Ich experimentierte daraufhin mit verschiedenen Techniken, um den
richtigen Weg zu finden, das Thema auszudrücken.
Nach
ein paar Monaten der Suche fing ich an, sehr feines Seidenpapier zu verwenden,
das beim Auftragen auf die Leinwand mit seinen ausgeprägten Falten eine sehr
ungewöhnliche Textur als Hintergrund ergab.
Meine
Lehrer waren immer sehr ermutigend. Wir diskutierten über Farben, Proportionen
und darüber, wie man seine eigenen Ideen in die Tat umsetzen kann.
NB
und HK: Sie sind ein Wanderer zwischen Welten und Zeiten. Inwiefern trägt Ihre
persönliche Biografie zu Ihrer Offenheit gegenüber
unterschiedlichen Kulturkreisen bei?
TD’V:
Aus irgendeinem seltsamen Grund ist jede Generation meiner Familie
ausgewandert. Revolutionen und Kriege haben viele Mitglieder meiner Familie
entwurzelt. Ich würde aber nicht sagen, dass es ein Fluch ist, sondern eher
eine interessante nomadische Erfahrung, die erfrischt, bereichert und einem die
Möglichkeit gibt, die Richtung des eigenen Lebens
neu zu bestimmen; das hat mir das Gefühl gegeben, zur ganzen Welt zu gehören. Ich interessiere mich sehr für antike
Mythologie und Etymologie – immer auf der Suche nach meinen Wurzeln.
NB
und HK: Welche Rolle spielten Ihre Eltern, die ebenfalls einen künstlerischen
Hintergrund hatten, für Ihre künstlerische Ausbildung?
TD’V:
Meine Eltern waren meine ersten Kunstlehrer. Ganz wunderbar war, dass sie mich
nicht in die Kunst gedrängt haben; sie gaben mir immer die Freiheit, meinen
eigenen Weg zu wählen, aber als sie spürten, dass meine Leidenschaft in diese
Richtung ging, geleiteten sie mich sanft dorthin. Ich habe von ihnen gelernt,
dass Kunst die Fähigkeit voraussetzt, Schönheit zu
erkennen. Das Erlernen des Sehens ist ein wesentlicher Bestandteil des
Kunststudiums.
NB
und HK: Wie hat der Umzug nach Großbritannien Ihre Arbeit beeinflusst? Was
waren die offensichtlichsten Unterschiede im Gegensatz zu Russland und
Zentralasien?
TD’V:
Der Umzug in das Vereinigte Königreich hat mir einen faszinierenden Zugang zu
neuen Themen verschafft – von der alten keltischen Mythologie bis hin zu den
hohen Gewölben gotischer Kathedralen – Westminster,
Salisbury und Canterbury. Meine Formate wurden hoch und schmal, die Figuren bewusst
gestreckt. Als ich Russland und Zentralasien verließ, existierte noch die
Sowjetunion. Damals war es schwierig, ins Ausland zu reisen und europäische
Kunst und Architektur hautnah zu erleben. Der Mangel an Bewegungsfreiheit
stellte einen ganz offensichtlichen Unterschied dar, denn Freiheit ist eine
unverzichtbare Voraussetzung für jeden Künstler.
NB
und HK: Wie finden Sie ihre Motive? Was sind die vorbereitenden Schritte, bevor
Sie mit dem Malen beginnen? Wir gehen davon aus, dass Sie viel in Ihrer scheinbar
riesigen Bibliothek recherchieren…
TD’V:
Sie haben Recht, Inspiration kommt oft aus Büchern. Ich habe im Laufe der Jahre
viele Bücher über Geschichte und Philosophie gesammelt. Ich genieße die
Recherche sehr, denn sie führt einen in andere Zeiten und Dimensionen. In der
Imagination entstehen Königreiche ohne Grenzen, Farben und Legenden,
die sich zunächst in Skizzen
manifestieren, um dann später auf der Leinwand lebendig werden.
NB
und HK: Die Jagd, der Falke, Rehe, Hunde, Pferde, Tiger, Leoparden, der
Granatapfel usw. Sie verwenden universelle Symbole, die in der Lage sind,
Grenzen zu überschreiten bzw. die Lücken zwischen verschiedenen Kulturen zu
schließen. Wenn Sie mit verschiedenen Betrachtern Ihrer Bilder sprechen,
verstehen diese sie auf eine gemeinsame Weise? Oder gibt es je nach Publikum in
Ost und West, Orient und Okzident noch ganz unterschiedliche Herangehensweisen
an Ihre Bildsprache?
TD’V:
Ich denke, Kunst ist universell. Kunst ist eine visuelle Sprache, die für
jedermann zugänglich ist und mit ewigen und anschaulichen Bildern operiert. Die
Sammler meiner Bilder sind in verschiedenen Ländern beheimatet. Sie haben ihre
eigenen Interpretationen, aber das ist kein Hindernis für das Verständnis.
Viele Symbole sind kulturübergreifend gleich. Künstler und Betrachter stehen im
Dialog über Thema und Komposition; die Symbole können unterschiedlich gelesen werden, sie bedürfen
jedoch keiner Übersetzung. Es gibt zwar nur wenige Geschichten mit
Ewigkeitsanspruch; die Möglichkeiten, diese künstlerisch auszudeuten,
jedoch sind unendlich.
Historisch
gesehen wurde Taschkent an der Kreuzung von Orient und Okzident gegründet. Die
Seidenstraße war die Lebensader, die die byzantinische Welt manifestierte.
NB
und HK: Artuslegenden, keltische Mythologie, mittelalterliche Wandteppiche,
z.B. der berühmte Teppich von Bayeaux, gotische Kunst, byzantinische Kunst,
Renaissancekunst, manieristische Gesten… Ihre Bildsprache ist weitgehend von
historischen Motiven und Mustern inspiriert. Was fasziniert Sie an diesen
Epochen der Geschichte?
TD’V:
Ich bin ebenso inspiriert von der Symbolik, die sich innerhalb dieser Themen
verbirgt, wie von der Universalität ihrer künstlerischen Ausformungen. Manchmal
wirken diese bis ins Kleinste stilisiert oder gar naiv, aber gleichzeitig auch
tiefgründig. Die Weisheit, die sich in künstlerischen Äußerungsformen zeigt, kann sehr inspirierend
sein.
NB
und HK: Die Interaktion zwischen Menschen folgt gewissermaßen zeitlosen Regeln
und Umgangsformen. Inwiefern würden Sie also sagen, dass Ihre Bilder, obwohl
sie motivisch in der Geschichte verwurzelt sind, auch zeitgenössische Themen ansprechen?
TD’V:
Ich denke, es ist ein Fehler, sich von der Vergangenheit zu lösen. Wir alle durchleben immer wieder dieselbe
Geschichte. Diese Geschichte veraltet nie. Traurigerweise gibt es Krieg, aber
es gibt auch immer Liebe und Freude. Die Intensität der Farben, die Symbolik
bestimmter Tiere und Gegenstände spiegeln das Drama des Lebens wider, das wir
immer wieder erneut erleben – auch heute. Solange unsere Emotionen die gleichen
bleiben, wird sich auch die Geschichte endlos wiederholen.
NB
und HK: Sie besitzen Studios an zwei ganz unterschiedlichen Orten: in einer
urbanen Umgebung im Westen Londons und in einer viel ländlicheren Umgebung in
der Normandie, Frankreich. Wie würden Sie die spezifische Atmosphäre dieser
sehr gegensätzlichen Orte und das daraus entstehende künstlerische Ergebnis
beschreiben?
TD’V:
Ich genieße den Kontrast sehr. Beide ergänzen sich gegenseitig und setzen
unterschiedliche Energien für meine Kreativität frei. Man benutzt gerne das
Bild von »Römern und Griechen« – Intellekt und Emotionen. London verkörpert für mich dieses »römische« Wissen, das
ich genieße. Die ländliche Normandie vermittelt mir die lebenswichtige Energie
der Erde.
NB
und HK: In einem Interview erwähnen Sie Ihre alchemistische Seite. Bitte erzählen
Sie uns ein wenig über die experimentellen Aspekte Ihrer malerischen Praxis.
Verwenden Sie unorthodoxe Materialien oder Methoden, um die gewünschten
Endergebnisse zu erzielen?
TD’V:
Alchemie ist für mich der Weg der Schöpfung.
Eigentlich ist bereits das Mischen von Farben schon Alchemie. Von der Recherche
über die ersten Skizzen bis hin zum fertigen Gemälde ist es ein langer Weg. Ich
nehme an, alle Profis haben ihr Handwerksgeheimnis. Für mich liegt das
Geheimnis in der Selbstdisziplin und der Konzentration auf die eigene Arbeit
und in der ständigen Bereitschaft, göttliche Inspiration zu empfangen.
NB
und HK: Würden Sie zustimmen, dass Ihre Bilder dem Betrachter auch etwas über
Ihre persönliche Reise und Ihr Streben nach einem eigenen
Ort zwischen Zentralasien, Russland, England und der Normandie erzählen?
TD’V:
Ja, da stimme ich zu. Jeder Künstler ist in seinen Kreationen immer subjektiv.
Es gibt eine biografische Spur persönlicher Emotionen und des eigenen Weges, die in
den Werken zum Ausdruck kommt.
Sie
haben Zentralasien, Russland, England und die Normandie erwähnt. Sie sind alle
in meinem Herzen, weil sie alle Teil meiner Suche nach Erkenntnis sind.
Ich
arbeite derzeit an einem »perfekten Raum« in der Normandie. Ich möchte etwas Ähnliches schaffen, wie es Monet in Giverny
hatte – ein Wohnhaus für die Familie, ein Atelier, eine Bibliothek und einen
Garten. Ich habe auch die Idee, einen mythologischen Raum nachzubilden – inspiriert
von Arthurianischen Legenden – man wandert durch den Wald und findet sich am
Ende auf einer wunderschönen Wiese mit einer »Burg« in der Mitte wieder.
NB
und HK: Das Gemälde „Fountain“ wird, neben anderen ihrer Werke, auf der
NordArt gezeigt. Mit Abmessungen von 250 x 600 cm ist es sicherlich eines Ihrer
größten Werke überhaupt. Es wurde 2022 fertiggestellt. Da wir in unfriedlichen
Zeiten leben, könnte es als Kommentar zur aktuellen Situation
in der Ukraine und als Aufruf zum Frieden gelesen werden. Könnten Sie diesen Eindruck bitte näher erläutern…
TD’V:
Ja, in der Tat. Ich arbeitete noch an diesem Bild, als die schrecklichen
Nachrichten über die Situation in der Ukraine uns alle zu schockieren begannen.
Die ursprüngliche Idee hinter diesem Werk war es, eine lange zurückliegende
Begebenheit darzustellen, die im frühmittelalterlichen Spanien im Königreich Cordoba stattfand – zu einer Zeit, als
Muslime, Juden und Christen in ihrem Glauben und ihrer Suche nach ewiger
Weisheit vereint waren. Einer Zeit des Friedens und des Wohlstands, die es den Menschen
ermöglichte, sich auf den Humanismus und die Schönheit des Wissens und der Kunst zu
konzentrieren.
Meiner
Ansicht nach hat der Künstler die immerwährende Verpflichtung, die aktuelle
Realität zu reflektieren und Frieden und Schönheit in diese Welt zu bringen.
Kürzlich
habe ich eine Titelillustration für ein Buch gemacht, das von Justin Welby, dem
Erzbischof von Canterbury, geschrieben wurde. Es trägt den Titel »Die Kraft der Versöhnung«. Das Buch
wird bereits im Juni erhältlich sein. Es ist eine interessante Lektüre darüber, wie wir uns versöhnen und Lösungen finden können, sei es auf der Ebene von Staaten oder von
Individuen.
NB
und HK: Lieber Timur D’Vatz, wir danken Ihnen für das Gespräch.